Rituale – Ankerplätze für die Seele

RitualeRituale kennen wir: Freitag gibt’s in Krankenhäusern, anderen Institutionen und selbst beim Finanzamt Fisch. In der Adventszeit wird an jedem Sonntag eine Kerze angezündet. Im Herbst werden Kürbisse geschnitzt und an Ostern Bäume mit Ostereiern behängt. Am Sonntag gibt’s Torte. Und am Montag „Reste“. Wenn ein Mensch stirbt, wird das Fenster aufgemacht, um die Seele hinauszulassen. Wenn ein Kind geboren wird, wird Babywäsche an die Leine gehängt.

Rituale treffen wir überall dort an, wo Menschen leben: Morgenkreis oder Meeting mit festen Strukturen, Quiz-Shows und Song-Conteste, die Liturgie des Gottesdienstes oder das Fußballspiel. Mittlerweile sind uns die Rituale so geläufig geworden, dass wir sie oft gar nicht mehr wahrnehmen.

Diese Rituale unterbrechen unseren Alltag.

Sie begleiten uns durch das Jahr und die Monate. Sie strukturieren unsere Zeit und machen uns Freude. Sie helfen uns, dem grauen Alltagseinerlei zu entfliehen. Und machen uns stärker für Krisenzeiten. Wenn ich Menschen nach ihren Assoziationen zu dem Thema „Rituale“ frage, sind fast immer folgende Worte dabei:

  • Immer die gleiche Abfolge
  • Es hilft
  • Macht glücklich
  • Man ist ganz „dabei“
  • Strukturiert Zeitabläufe

Damit sind schon viele wichtige Bausteine eines Rituals genannt.

Rituale sind Handlungen, die wiederholt werden. Mit großer Achtsamkeit und Aufmerksamkeit. Meistens sind sie verbunden mit Symbolen. Rituale sind wichtig für uns, weil sie unseren Gefühlen und Bedürfnissen Form und Ausdruck verleihen. Sie geben uns Sinn.

Der kleine Unterschied: Rituale und Gewohnheiten

Und es gibt Gewohnheiten. Gute und Schlechte. Gewohnheiten werden auch wiederholt. Allerdings ohne große Aufmerksamkeit, auch fehlt oft das Symbol. Meistens sind sie praktisch ausgerichtet. Rituale können als Gewohnheit beschrieben werden, doch das wird ihrem Stellenwert nicht wirklich gerecht. Rituale sind Ankerplätze im Leben, die Stabilität geben und an denen sich viele andere Abläufe ausrichten können. Sie haben ein weiteres wichtiges Element, das besonders beachtet werden möchte: die Zeit. Einen Rhytmus.

Rhythmen sind wichtig für unser Leben und uns als Person, gerade in der heutigen Zeit. Sie zeigen, wer wir sind, geben uns eine Form. Durch diese Form zeigen wir auch unsere Individualität.

In allen spirituellen Entwürfen hat man sich mit der Zeit und ihren Wechseln beschäftigt. Es wird der Morgen und der Abend beachtet, der Rhythmus der Wochen, Monate und Jahre.

Dass auf jeden Abend ein neuer Tag folgt, und dass das Leben auch nach schweren Schicksalsschlägen wieder Gutes für uns bereit hält, diese Erfahrung gibt uns die Gewissheit, dass das Leben weitergeht und wir keine Panik oder Lebensangst bekommen müssen. Dieser Rhythmus ist Gegenstand vieler öffentlicher Feiern: Weihnachten, Silvester, Kirmes, Fasching etc. – ihnen wohnt die soziale Vergewisserung inne, dass das Leben wiederkommt und dass wir Hoffnung haben dürfen.

In der Nähe der Straße, in der ich wohne, wirbt eine Tankstelle mit: „24 Stunden am Tag geöffnet, sieben Tage in der Woche.“ Das ist nicht neu. Wir wissen es längst, wir können ja per Mausklick 24 Stunden am Tag einkaufen, lesen, am Leben anderer teilhaben. Menschen brauchen aber außer Produktion und Reproduktion auch noch andere Zeiten. Zeiten um zu ruhen, Zeiten um zu schlafen und auch zu träumen! Mittlerweile wird das zum Luxus. Umso wichtiger, dass wir unserem Alltag eine Struktur geben, die wir selbst beeinflussen können.

Der Ethnologe Arnold von Gennep hat ein einflussreiches Konzept entworfen. Die rituellen Handlungen, die zur Abweichung eines ungeschützten Übergangs dienen (der Zwischenzustand zwischen Beginn und Ende ist ja noch nicht definiert) nannte von Gennep Übergangsriten.

Ein Ritual hat folgende Phasen:

1. Phase (Trennungsphase)

Die Trennungsphase bedeutet, dass ich etwas hinter mir lasse. Ich trete aus dem Alltäglichen heraus und gehe in das Besondere hinein. Es wird ein Rahmen geschaffen, es werden besondere Vorbereitungen getroffen. Man kann die Trennungsphase als Einstimmung bezeichnen. Als eine Zeit der Vorfreude.

2. Die Übergangsphase

Diese Phase beschreibt die eigentliche Teilnahme an dem Ritual. Wir erleben uns neu oder anderes. Uns und auch die anderen. Wir nehmen neue Rollen und Identitäten an. Bei einer Hochzeit wird man vom Single zum Ehepartner. Bei Beerdigungen wird man von der Ehefrau zur Witwe. Bei Jubiläen wird man vom Juniorchef zum Seniorchef. Bei Einschulungen wird man vom Vorschulkind zur Schülerin.

3. In der Phase der Neuanbindung …

… gibt es verschiedene Punkte, die Beachtung verdienen:

  • Bei Statusfeiern (Einschulung, Hochzeit etc.) tritt die kollektive Bedeutung in den Vordergrund: Menschen werden in ihrem neuen Status in die Gemeinschaft aufgenommen.
  • Bei privaten Ritualen bezieht man sich gemeinsam auf die Zukunft. Was wird als nächstes kommen? Was ist zu tun? Was hat mich kräftigt gemacht?

 

Ein Spruch meiner Oma hat mich mein Leben lang begleitet: „Selbst gebackene Kuchen und selbstgemachte Gebete sind immer die besten.“ Ich würde ihn heute erweitern und sagen, auch selbstgemachte Rituale und Rhythmen sind die besten – also die, die wir frei wählen können. Sie werden uns nicht einfach verhängt. Wenn wir es schaffen, diese Rituale zu Knotenpunkten zu machen, in denen wir bei uns sein können und uns als unsere eigene Heimat erfahren, dann haben wir viel geschafft.

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